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Spiel auf anderen Wellenlängen: Kinder im Autismus-Spektrum verstehen und ihre Spielthemen aufgreifen

Spiel ist in der kindlichen Entwicklung allgegenwärtig – und wird in Frühpädagogik und Therapie häufig als Fenster zur Kommunikation genutzt. Doch was bedeutet „Spiel“ für autistische Kinder? Und wie können wir ihre Spielwelten besser verstehen?


Ein sich drehendes Windspiel

In der Fachliteratur und Praxis wird Spiel häufig durch eine neurotypische Brille betrachtet: Als sozial-interaktives, symbolisches Tun – möglichst fantasievoll, möglichst dialogisch. Abweichungen davon gelten schnell als „defizitär“ oder „nicht altersgemäß“. Doch Studien wie die von Carmel Conn (2015) zeigen: Autistische Kinder spielen. Sie tun es nur oft anders. Und gerade darin liegt eine große Ressource.


Was autistische Kinder begeistert

Autistische Spielkulturen lassen sich in drei wiederkehrenden Themenbereichen beschreiben:


1. Sensorisches Spiel

Viele autobiografische Berichte von Menschen im Autismus-Spektrum zeigen, wie bedeutungsvoll die sinnliche Auseinandersetzung mit Gegenständen, Bewegungen und Geräuschen ist: das Rühren von Wasser, das Betrachten von Licht durch bunte Plastikscheiben, das Bauen visueller Muster, das Laufen entlang von Linien oder das Staunen über die Drehung einer Waschmaschinentrommel.

Dabei steht nicht der Austausch mit anderen im Vordergrund, sondern das innere Erleben: Freude, Sicherheit, Kontrolle und ein tiefes Gefühl von Wohlbefinden. Es sind Momente intensiver Selbstwahrnehmung – oft mit starkem emotionalem Gehalt. In ihnen kann das Kind zur Ruhe kommen oder in ein Hochgefühl eintauchen.


2. Spiel mit Ordnung, Wiederholung und Präzision

Auch wenn symbolisches Rollenspiel bei autistischen Kindern seltener vorkommt, wird das „So-tun-als-ob“ durchaus gelebt – nur anders: Es kann etwa das akkurate Nachspielen realer Szenen oder das Ordnen von Objekten sein, das der inneren Logik des Kindes folgt. Besonders faszinierend sind für viele autistische Kinder sogenannte „hyperreale Objekte“ – Dinge, die sehr konkret sind oder bestimmte Regeln mit sich bringen.

Nicht selten lautet die Devise: Wenn der Aufbau fertig ist, ist das Spiel vorbei. Das Ergebnis – etwa eine exakt sortierte Sammlung – ist das Ziel.


3. Gemeinsames Spiel – auf anderen Wellenlängen

Auch wenn soziale Interaktion für viele autistische Kinder eine Herausforderung ist, berichten viele von einem tiefen Wunsch nach Freundschaft. Sie erinnern sich an besondere Spielkameraden, die ihre Spielweise akzeptiert haben – etwa das laute, körperliche Spiel, das Wiederholen bestimmter Abläufe oder die Freude an Geräuschen.

Was gute Spielpartner*innen verbindet? Offenheit, Toleranz, Kreativität. Nicht selten entwickeln gerade heterogene Spielpaare – autistisch und nicht-autistisch – sehr eigene Spielformen, die beide Seiten genießen.


„Sie war die erste Person, die meine Spiele spielte.“(Williams 1992, 21)


Spiel verstehen heißt, Spiel zulassen

Statt autistisches Spiel an neurotypische Standards anzugleichen, lohnt sich ein Perspektivwechsel: Was sind die Spiel-Themen des Kindes? Was macht ihm Freude? Welche sensorischen, motorischen oder strukturellen Elemente sprechen es an?

In der logopädischen Praxis kann dies bedeuten, stereotype oder ritualisierte Spielweisen nicht zu unterbrechen, sondern sie als Einstieg in gemeinsame Aufmerksamkeit, sprachliche Begleitung oder Mitspiel zu nutzen. Wenn wir die Begeisterung des Kindes verstehen, können wir sprachlich dort andocken, wo seine Welt beginnt.

Fazit:Autistische Kinder spielen. Und oft liegt gerade in ihrem Spiel – mit all seiner Sinnlichkeit, Wiederholung, Ordnung oder Andersartigkeit – ein Schlüssel zu Beziehung, Kommunikation und gemeinsamer Freude. Wir müssen nur hinsehen. Und mitspielen


Literatur und Quellen:


·       Conn, C. (2015). ‘Sensory highs’, ‘vivid rememberings’ and ‘interactive stimming’: children’s play cultures and experiences of friendship in autistic autobiographies. In: Children & Society, 30(3), 187–197. https://doi.org/10.1111/chso.12134


·       Williams, D. (1992). Ich könnte verschwinden, wenn du mich berührst. Die Innenwelt eines autistischen Kindes. (Originaltitel: Nobody Nowhere). München: Goldmann.

 
 
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